Jung und alt
Wie schön war es doch ein Kind zu sein. Keine Sorgen, viel freie Zeit und eine ganze noch vollkommen unbekannte Welt, die es zu entdecken galt. Kind sein ist in vielerlei Hinsicht eine der schönsten Lebensphasen. Größtenteils frei von Erwartungen an die Umwelt und Mitmenschen und generell noch so naiv und grundsätzlich hoffnungsvoll, dass man fast jedem Tag ein strahlendes Lächeln entgegenbringen kann.
Aber mit der Zeit schwindet dieses Gefühl von Entdeckungslust, Wunder und Aufregung bezüglich dessen, was der Planet für Erfahrungen in seinem Sortiment bereithält. Irgendwann meint man, seine Fülle der Welt schon gesehen zu haben. Aus herrlicher Naivität wird oft müde Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar eine aussichtslose Depression.
So als wären die Jahre als Kind nie gewesen, werden wir älter und vergessen oft, was es hieß, ein Kind zu sein. Wie es sich angefühlt hat, jeden Tag neue Perspektiven zu gewinnen und was es für ein Gefühl war, in einer Welt von großen Menschen nur einer der Kleinen gewesen zu sein. Mit dem Älterwerden verliert man nicht nur die unschuldigen Perspektiven aus der Kindheit, man vergisst auch, was es heißt, ein Kind zu sein. Wie sich ein Kind fühlt, wie es Gefühle ausdrückt und wie es die Gefühle seiner Mitmenschen aufnimmt und mit ihnen umgeht.
‚COME ON, COME ON‘ von Mike Mills ist ein Film über diese Perspektiven, die man im Laufe des Lebens aus dem Auge verliert. Die Perspektive von Jung auf alt und gleichzeitig die Perspektive von alt auf jung. Ein Blick darauf, wie Erwachsene im Prozess des Erwachsenwerdens die subjektive Wahrheit ihrer kindlichen Vergangenheit verlieren und von ihren Lebensjahren geformt eine realitätsferne Sicht auf das Entwickeln, was sich ihre Kindheit nennt.
Generationen beeinflussen Generationen
Joaquin Phoenix‘ Charakter Johnny beschäftigt sich beruflich derzeit mit Kindern. Sie werden nicht nur befragt, sondern auch angehört. Darüber, was sich in ihren unerfahrenen Köpfen abspielt, was sie zur Zukunft, zu Familie, zum Menschsein und zum Leben um sie herum zu sagen haben. Der Film nimmt sich immer wieder Zeit, um diese Interviews mit Kindern & Jugendlichen in seine Laufzeit zu integrieren und so selbst den jungen Stimmen der Zukunft ein Sprachrohr zu gewähren. So fängt der Film an und vermittelt unmittelbar den Gedanken, dass auch den jüngsten Generationen einfach einmal zugehört werden sollte.
Mit der Bitte, dass sich Johnny um Jesse (Woody Norman), den neun Jahre alten Sohn seiner Schwester Viv (Gaby Hoffmann) kümmern soll, stellt sich allerdings heraus, dass Johnny trotz seines so stark mit Kindern verwobenen Berufs noch sehr viel zu lernen hat, wenn es darum geht, wirklich zu verstehen, was sich in den Köpfen von Kindern abspielt.
Gleichzeitig lauert die unbewältigte Vergangenheit Johnnys und Vivs im Hintergrund. Die nicht vorhandene Beziehung der beiden Geschwister, alles aufgrund deren Beziehung zu ihrer Mutter. Eine Mutter, die ihren einen Liebling hat, ihre Tochter aber nie verstehen konnte und es vielleicht auch nicht wollte. Ihrer Tochter, der es schwerfiel, je zur Mutter durchzudringen.
Viv liegt deshalb viel daran, ihrem Sohn so viel Verständnis und Empathie gegenüber aufzubringen wie auch nur möglich. Aufgrund ihrer Erziehung weiß sie, wie wichtig es ist, sich von seinen Eltern gesehen und verstanden zu fühlen, so anstrengend oder gar unnormal ein Kind auch sein kann. Aber was heißt denn schon normal? Viv möchte, dass ihr Kind weiß, dass es in Ordnung ist, nicht „normal“ zu sein. Denn wer weiß schon, was „normal“ überhaupt bedeutet, wenn es selbst die Erwachsenen nicht tun?
So kümmert sich Johnny also um den Sohn seiner Tochter. Jesse ist intelligent, etwas eigensinnig und eventuell auch so aufbrausend, als dass Johnny damit klarkommen könnte. Diese zwei Menschen, Jesse und Johnny stehen also im Mittelpunkt von ‚COME ON, COME ON‘. Die Frage: Können zwei Menschen, jung und alt, einander wirklich verstehen?
Authentische Menschen
Üblich für Joaquin Phoenix findet er sich auch hier in einer Rolle wieder, die generell als etwas verloren in seinem Alltag rüberkommt. Nicht unglücklich per se, aber ein Charakter, dem etwas fehlt und den Kontakt zu seiner inneren Menschlichkeit verloren zu haben scheint. Wie üblich liefert er auch hier wieder eine sehr gute Performance ab, so sehr der Rahmen seines Charakters es auch zulässt. Man spürt seine Wärme, man versteht seine leichte Ziellosigkeit, man akzeptiert seine Begeisterung für seine Arbeit und man sieht ihm die sich entwickelnde Liebe zu seinem Neffen an.
Damit sind wir beim Herzstück des Films, Woody Normans Jesse. Der Film verbringt den größten Teil seiner Laufzeit mit ihm und seiner temporären Aufsichtsperson, seinem Onkel. Ohne eine überzeugende Kinder-Performance wäre somit schon mindestens die Hälfte des Films eher weniger glaubhaft anzusehen. Aber Norman spielt seinen Teil großartig.
Es ist oft nicht leicht für Kinderstars lebensnahe Charaktere darzustellen. Ob es an dem fehlenden Talent, der noch viel zu jungen Kinder oder viel mehr an der Ahnungslosigkeit der Skriptschreiber und Regisseure liegt, wie sich Kinder verhalten und wie man sie am besten in die richtige Richtung weist.
Das wird in ‘COME ON, COME ON’ aber nie zu einem Problem. Jesse wird hier so glaubenswürdig porträtiert, dass nicht nur der Charakter, sondern auch sein Schauspieler untypisch intelligent für sein Alter wirkt. Es steckt genau so viel kindliche Lebensfreude, nervige Naivität, verwirrende Irrationalität und bloße Erfahrungslosigkeit in dem Schauspiel, dass man merkt, dass man sieht, dass Woody Norman weiß, was er tut. Er spielt nicht nur sich selbst, er spielt ein Kind, das ein Kind ist. Und nur ein Kind, das selbst begreift, ein Kind zu sein, kann auch das Kindsein vor laufender Kamera darstellen.
Authentische Welt
Visuell hat sich Regisseur Mills hier für eine inspirierte Präsentation in Schwarz-Weiß entschieden. Aber ob es wirklich nötig war, den Film ohne Farben zu zeigen, wird nie wirklich klar. Die Entscheidung, hier Wert auf weniger anstatt auf mehr zu legen, wird nicht gerechtfertigt, zumindest scheint es keinen wirklichen Grund dafür zu geben, warum diese stilistische Wahl getroffen wurde. Das denkt man zumindest insbesondere noch anfangs.
In einem Interview offenbart der Regisseur seinen Grund für diese Inszenierung. Mills hat nicht nur eine persönliche Vorliebe für Filme in Schwarz-weiß, sondern ist auch überzeugt davon, dass das Fehlen von Farbe dem Ganzen eine gewisse abstrakte Qualität verleiht, den Film so wirken lässt, als wäre er in etwa ein Traum, ein Märchen, als würde er nicht wirklich in unserer Welt spielen.
‚COME ON, COME ON‘ ist deshalb tatsächlich an vielen Stellen vor allem auf transzendente Weise schön. Das Dargestellte hebt sich gewissermaßen von einem typischen Drama ab und scheint speziell auf die Wirkung von der Menschlichkeit zwischen den Charakteren abzuzielen. In dem Sinne bekommt der Film eine ästhetische Wirkung, die viel mehr Wert auf die bloße Schönheit der Charaktere und ihrer Konversationen legt als auf das Bild an sich. Es ist fast so, als würden die fehlenden Farbtöne einen viel klareren Blick auf die Menschen zulassen, als würde erst das Fehlen von Farbe eine unbeschönigte Sicht ohne Ablenkungen auf das Geschehen möglich machen. So kriegt der Film wirklich einen gewissen märchenhaften, übernatürlichen Charakter.
Gleichzeitig untermalt diese Präsentation auch den dokumentarischen Aspekt des Filmes. Schwarz und weiß Distanzieren den Zuschauer so sehr vom Geschehen, dass sie ihn eine neutralere Position gegenüber den handlungstragenden Charakteren einnehmen lassen, sodass es sich so anfühlt, als würde man sich ein Interview, tatsächlich eine Dokumentation über diese verschiedenen Leben zugute führen.
Aufnahmen von den verschiedenen Städten, die im Laufe der Handlung besucht werden, sind immer wieder atemberaubend schön. Extrem stimmungsvolle Fotografien, welche die Essenz der gezeigten Orte in simplen Darstellungen perfekt aufnimmt und essenziell effektiv auf das Wichtigste herunterbrechen.
Dazu kommt auch noch das Sounddesign, als Teil der Handlung laufen sowohl Johnny als auch Jesse öfter mit Mikrofon durch die Gegend, um die Geräusche der Menschheit aufzunehmen, ob, um sie für die Zukunft aufzubewahren oder um eine abstrahierte Perspektive auf ihre Umwelt zu erlangen. Passend zu den stimmigen visuellen Aufnahmen der Welt wird auch auditiv ein authentisches Weltbild gemalt, dass die Schönheit des Menschseins passend zur Beziehung zwischen den Protagonisten besonders kennzeichnet.
Perspektiven
Mit dem Reisen durch verschiedene Städte und weiterem Kennenlernen der zwei Hauptfiguren offenbaren sie sich immer mehr ihrem Gegenüber. Natürliche Wissbegierde lässt Jesse Fragen stellen, die Johnny aus dem Konzept bringen. „Warum redest du nicht mit meiner Mutter?“, „Warum hast du niemanden in deinem Leben?“. Jesse mag jung sein, aber er ist nicht dumm. Vielleicht schon viel aufmerksamer als ein Erwachsener, merkt er Dinge, nimmt diese wahr und spricht sie an. Johnny ist für ihn wie ein Unbekannter, ein ungelesenes Buch, eine noch unerforschte Waldlichtung in der Nähe eines Spielplatzes.
Kinder merken viel mehr von dem, was um sie herum passiert, als man es im Nachhinein noch in Erinnerung hat. Sie fassen viel mehr Dinge auf, sie merken, wenn ihre Mütter unglücklich sind, merken, wenn etwas nicht so ist wie üblich, wenn etwas falsch läuft. Natürlich sind sie sich nicht immer selbst dessen bewusst, worüber sie sich denn bewusst sind. Ihnen fehlen die Weltkenntnisse, um jeden Gedanken und jede Erfahrung in die richtige Perspektive zu setzen. Die Sache ist, sie merken diese Dinge trotzdem, und mit dem Älterwerden fangen wir an zu unterschätzen, wie ausgeprägt die kognitiven Funktionen eines Kindes doch sein können.
Während Johnny seinem Neffen neue Perspektiven, neue Aspekte des Alltags und des Lebens offenbart, zeigt auch Jesse seinem Onkel längst vergessene Perspektiven auf das Kindsein, deren sich Johnny vielleicht sogar nie wirklich im Klaren war. Kinder sind eigensinnig, etwas durchgedreht und für Erwachsene fast schon unverständlich, aber hinter jeder ach so bizarren Aktion steckt die inhärente Logik eines Kindes. Das gilt es zu lernen, zu verstehen. Jeder war einmal Kind, aber kaum einer erinnert sich an die Logik eines Kindes, an das Verlangen, ernst genommen, geliebt und respektiert zu werden. Daran, dass auch Kinder dazu fähig sein können, ehrlich und direkt mit einem Erwachsenen zu kommunizieren.
Ein Bild von Menschheit
Am ehesten würde ich ‚COME ON, COME ON‘ als ein wunderschönes Gemälde bezeichnen. Ein Gemälde, das die essenzielle Menschlichkeit unserer Welt zeigt. Aber auf so eine Weise, dass man zum gegebenen Zeitpunkt nur einen Teil des Gemäldes wirklich sehen und verstehen kann. Als wäre das Gemälde auf einer Seite abgedeckt, je nachdem, in welcher Lebensphase man sich gerade befindet.
Die eine Hälfte des Bildes kann man nur als Kind wirklich sehen und verstehen, die andere Hälfte offenbart sich erst mit dem Alter, während die andere zu verblassen beginnt. Es sind nie beide Seiten gleichzeitig sichtbar. Als Kind kann man sich nur vorstellen, wie die andere Hälfte aussehen könnte und als Erwachsener muss man versuchen, sich an seine Kindheit zu erinnern, um sich ein ganzes Bild zu machen. Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Eltern und Großeltern werden alle andere Teile des Gemäldes verschieden ausgeprägt sehen und andere Aspekte der Schönheit im Dargestellten für sich entdecken können.
Das ist aber auch so eine Sache. ‚COME ON, COME ON‘ ist ein Film, der seine wahre Wirkung erst entfalten kann, wenn man mehr Jahre auf dem Buckel hat. Mehr gesehen und mehr erfahren hat. In jeder Lebensphase ist der Zugang zum Film ein anderer, aber im fortgeschrittenen Alter hat man den Vorteil, auf seine Vergangenheit zurückblicken zu können. Darüber zu reflektieren, wie sich die eigene Perspektive geändert hat und was zur jeweiligen Zeit wichtiger und weniger wichtig war.
Mike Mills hat es geschafft, die komplizierten Beziehungen von Generation zu Generation auf so eine Weise zu verpacken, dass es verschiedene Generationen braucht, um den Film für das zu sehen, was er ist. Ein authentischer, romantischer, märchenhafter Film über das Kindsein. Über das Erwachsenwerden. Über das Erwachsensein. Über das Menschsein.