Review – Dr. Strange in the Multiverse of Madness (Sam Raimi, 2022)

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Er ist zurück!

Sam Raimi. Nicht nur Pionier der Horror-Comedy mit dem Kulterfolg Evil Dead (1981) und der daraus resultierenden Trilogie, sondern auch Grundsteinleger für den modernen Superheldenfilm mit seiner Spider-Man Trilogie aus den 2000ern. Neun Jahre ist es her, dass er zuletzt die Kinoleinwand mit seinem einzigartigen Stil beglückt hat, aber er ist zurück.

Auch zurück ist Benedict Cumberbatchs Dr. Strange. Seine Einführung in Marvels Filmuniversum ist nun gute sechs Jahre her, er bekam 2016 seinen eigenen Film und seitdem beinahe jährlich einen Gastauftritt in den Filmen anderer Helden oder gleich bei den riesigen Crossovern der Avengers. Somit lag Dr. Stephen Stranges Charakterentwicklung in etwa sechs Jahre lang auf Eis. Mit all der Zeit hat sich die Welt des Marvel-Kinos weiterentwickelt, weg von halbwegs persönlichen Geschichten zu riesigen Abenteuern, die mehr als nur ein einziges Universum bedrohen.

Mit der puren Eskalation der Superheldengeschichten explodiert auch der Rahmen von Dr. Stranges Handlungspotenzial. Anstatt an den losen Faden des ersten Teils anzusetzen, wird aus Dr. Stranges zweitem Film auch eine Geschichte über die immer beliebter werdende Scarlet Witch (Elizabeth Olsen) und letzten Endes mehr zu einem WandaVision (2021) Sequel als eine Fortsetzung zu 2016s Dr. Strange. Dementsprechend jongliert Sam Raimi Ideen aus der Welt von Dr. Strange behandelt Scarlet Witchs Abstieg in den Wahnsinn, bearbeitet den multiversellen Ballast aus dem Marvel Universum und bereitet Neuzugang America Chavez (Xochitl Gomez) ihren Einstieg ins MCU.

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Holprige Handlung

Die ganze Handlung lässt sich am besten mit der berühmten Zug-Szene aus Raimis eigenen Spider-Man 2 (2004) vergleichen. Unter der Anstrengung, die Handlung zusammenzuhalten, jedem Charakter Raum zu geben, das Multiversum zu erforschen und dann auch wirklich eine kohärente Geschichte zu erzählen, bricht der Film fast in sich zusammen. Mit größter Mühe schafft es Raimi gerade so, den Zug nicht zum Entgleisen zu bringen, aber diese Mühe ist permanent zu spüren.

Die bisher unbekannte America Chavez wird zusammen mit einem alternativen Dr. Strange aus den Weiten des Universums von einem Monster verfolgt. Das eine führt zum anderen, America landet im Universum des uns bereits bekannten Doktors. Seit Stephens erstem Film hat seine alte Kollegin Dr. Christine Palmer (Rachel McAdams) sich verliebt und ist gerade dabei, jemand anderen zu heiraten. Ist Doctor Strange glücklich? Lohnt es sich ein Superheld zu sein, wenn das heißt die Liebe seines Lebens zu verlieren?

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Gleichzeitig wurde Wong (Benedict Wong) während Stranges fünf Jahre langer Abwesenheit zum neuen Sorcerer Supreme und die Scarlet Witch, Wanda Maximoff, hat sich im Versuch, ihre Kinder zurückzubekommen, der dunklen Hexerei zugewandt. America Chavez‘ Tod ist Wandas Schlüssel zu ihren Kindern, Strange und Wong lassen den Mord an einem unschuldigen Kind für solch selbstabsorbierte Zwecke nicht zu, so kommt es zu viel Tod, Grausamkeit und Sprüngen durchs Multiversum.

Neben der Tatsache, dass der Plot schon generell ohne vorheriges Wissen aus dem MCU nicht auf die Schnelle verständlich ist, ist es umso wirrer, wie wenig einem Vorwissen aus dem ersten Teil hier weiterhilft. So viele Charaktere und ihre Charakterentwicklungen werden hier referenziert oder über den Kurs des Films grob und stellenweise so schlampig aufgebaut, dass kein wirklich kohärentes Gesamtwerk entsteht.

Sprünge von A nach B, kaum Zeit für intime Charaktermomente und stattdessen ein Feuerwerk an interessanten Ideen und visuellen Spielereien, die den Zuschauer am Ball halten. Ich sehe Sam Raimi vor meinem Auge. Der angestrengte Versuch, den Zug, den Film nicht entgleisen zu lassen.

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Einer der Momente, der repräsentativ für die sehr konstruierte Handlung stehen könnte, ist einer der wenigen intrapersonellen Momente von und zwischen Dr. Strange und Chavez. Beim ziellos in der Gegend herumspazieren finden die zwei im Multiversum-Verlorenen eine Maschine, die wichtige und möglicherweise verdrängte Erinnerungen anzapft und für die betroffene Person visualisiert. So subtil wie ein Vorschlaghammer wird hier versucht, dringend nötige emotionale Resonanz zu erschaffen, die aufgrund der willkürlichen Platzierung in Form einer Maschine mit metallischer Roboter-Stimme flach aufs Gesicht fällt.

Ähnlich wie in anderen Marvel-Werken wie einem Avengers: Infinity War (2018) liegt die größte Stärke des Films nicht direkt in der Handlung. Die meisten Handlungselemente sind zu auffällig zusammengeschustert und in Sam-Raimi-Manier stellenweise so überzogen, dass die Emotionalität irgendwo in bloßer Verwirrung oder aber auch im Spaß verloren geht. Da liegt aber eben auch die Stärke. Sam Raimi. Ab einem gewissen Punkt feuert der Kultregisseur von allen Zylindern und spitzt die inhärente Dämlichkeit eines Comicbuchs so zu, dass man sich so fühlt, als würde man in einer leicht holprigen, aber doch unendlich unterhaltsamen Achterbahnfahrt befinden.

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Der Stil? Groovy.

Mit Dr. Strange in the Multiverse of Madness findet sich Raimi wieder einmal im Superhelden-Genre und vereint seinen Stil aus Spider-Man Tagen mit seinen viel verrückteren Tendenzen als kultiger Horror-Regisseur. Eine große Frage im Verlauf von Ankündigung seiner Teilnahme am Dr. Strange-Sequel bis heute war: Wie weit wird das Marvel Cinematic Universe Sam Raimi gehen lassen? Wird Produzent Kevin Feige den Griff seiner allumfassenden Faust lockern und Raimi erlauben, einen Film zu drehen, dem man seine Individualität auch ansehen kann?

Die Antwort ist in beiden Fällen: Ja. In dem Dr. Strange Sequel steckt viel mehr von Sam Raimis DANN, als man es erwarten würde. Schließlich ist das MCU nicht gerade dafür bekannt, seinen Regisseuren viel Spielraum für kreative, vor allem visuelle Expression ihrer Ideen zu erlauben. Noch überraschender ist, dass hier weniger von Raimis Spider-Man Filmen drinsteckt als viel mehr seine verrückten Ideen aus Evil Dead II (1987), Drag Me To Hell (2009) oder sogar Darkman (1990).

Wirklich, es steckt so viel vom prä-Spider-Man Sam Raimi in Multiverse of Madness als von eben der Superhelden Trilogie, für die er heute so bekannt ist. Tode, die für das MCU nicht nur brutal, sondern in wahrer Sam Raimi-Manier so lustig sind, dass man sich so fühlt, als würde man wieder Evil Dead IV gucken. Dutch Angles, Crash Zooms, Fischaugen-Objektive für die Kamera, Aufnahmen im Sinne eines Stalkers, kleine nervige Monster mit nervigeren Stimmen, zuschlagende Türen, schnelle Kameraschwenks, großer Fokus auf Augen, Bruce Campbell Cameos sowie das Leiden und Lieben der Protagonisten.

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Stichwort, Stichname Bruce Campbell. Raimis Langzeitkollaborateur und noch längerer Freund hat auch hier wieder einmal, wenn nicht die Hauptrolle einen kurzen Gastauftritt einlegen können. Dieser mag im Kontext der Gesamthandlung zwar sehr willkürlich wirken, aber ist mit Vorwissen über Raimis und Campbells Freundschaft nicht weniger als eine große Würdigung an ihre Zusammenarbeit in vorherigen Filmen. Einem Fan beider Legenden geht dort ganz groß das Herz auf.

Letzten Endes hat Raimi an fast jeder Ecke irgendwo seinen Stempel aufdrücken können. Da, wo sich der Film von den MCU-mandierten Charaktermomenten distanziert und im Bereich der altbekannten Sam Raimi-Theatralik vollkommen Gas gibt, hat man Spaß wie in keinem anderen modernen Marvel Film. Daher ist es nicht überraschend wie geteilt die Meinung zum neuesten MCU-Film doch sind. Sam Raimi, vorallem seine Horror-Filme, waren schon immer ziemlich eigen und nicht für jedermann. 

Raimi wird hier erfreulicherweise so verrückt, dass er von dem wirren Skript ablenkt und nichts als Freude, wenn auch Verwirrung im Angesicht der bizarren Einstellungen und Sequenzen bietet. Eine größere Überraschung als diese kann man von einem MCU-Film kaum erwarten. Ein Film, dem wirklich anzumerken ist, wer Regie geführt hat. Insbesondere, wenn man beachtet, wie willkürlich merkwürdig und nicht unbedingt Mainstream-fähig Raimi Filme sein können.

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Der Rest? Eher nicht.

Trotz der vielen interessanten Spielereien von Raimi und Team ist der Film nicht so hübsch anzusehen, wie man es sich wünschen würde. Sam Raimi hat in Zusammenarbeit mit verschiedenen Kinematographen visuell sehr ansprechende Werke erschaffen können, aber ähnlich wie bei Raimis vorherigem Film Oz the Great and Powerful (2013) geht viel des visuellen Flairs aufgrund der hohen Frequenz von am Computer entstandenen visuellen Effekten verloren. 

Auch wenn der hier gegenwärtige Kinematograph John Matieson in Zusammenarbeit mit dem Regisseur für farblich und von der Beleuchtung ansprechendere Bilder sorgt, als es bei üblichen MCU-Filmen der Fall ist, kann man schwer von einem gut aussehenden Film sprechen. Die visuelle Wirkung entfaltet sich vorallem in den sich im Bild entfaltenden Ideen als in dem tatsächlichen Aussehen, der Qualität der Optik. Besonders auffällig ist wie der visuelle Stil von Szene zu Szene selten kohärent ist. Überall wo echte Sets, meistens dunkle Orte zu sehen sind, wirkt der Film wertig und man sieht ihm sein Budget an. Doch sobald sich die Charaktere in hellen Gebäuden wiederfinden, verliert Multiverse of Madness komplett an jeder ästhetischen Wirkung.

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Nachdem The Batman (2022) erst vor ein paar Monaten einen der schönsten Blockbuster aller Zeiten dargestellt hat – und dass trotz schwerer Produktionsbedingungen unter dem Corona-Virus – gibt es keine Ausrede dafür, warum Multiverse of Madness nicht die Zeit für mehr echte, lebendige, gut aussehende Sets gefunden hat. Im Falle von Disney und Marvel ist es immer nur eine Frage der Zeit, nie des Geldes. Davon haben sie genug. Schade, wo New York zu Anfang doch so belebt und farbenfroh aussieht wie selten im MCU, aber der Film bis auf paar rare Instanzen dann eben doch nur eine Plörre an falsch aussehenden Computereffekten darstellt.

Ähnlich enttäuschend ist leider auch Danny Elfman. Langzeitkollaborateur Raimis, allein schon eine Legende für sein Batman-Theme aus Tim Burtons Batman (1989) schafft bloß in sehr seltenen und meistens kurzen Instanzen auch nur ansatzweise die Genialität seiner vorherigen Soundtracks aus seinen Glanzzeiten zu erreichen. Hier und da stach seine musikalische Untermalung von Action Szenen als charmant und old-school heraus, sie spielt nicht nur über die Szenen, sondern nimmt aktiv am Geschehen teil, an anderen Stellen wiederum ist sie austauschlos und uninteressant. 

Wo Raimi in bloßer artistisch-stilistischer-Expression Dinge bietet, an die kein anderer MCU-Regisseur so weit rankam, findet er sich optisch in dem Gefängnis wieder, dass seine Kollegen genauso festgehalten hat wie ihn nun auch. Die Frage ist, ist er selbst damit zufrieden? Zumindest sah sein letzter Film ähnlich mies aus, und das war noch ein Werk unabhängig des MCUs. Oder sind es doch wieder die Marvel Studios, die unter so großem Zeitdruck arbeiten, dass es keine realistische Möglichkeit gibt, seinen so Effekte abhängigen Film wie diesen mit praktischer Filmkunst aufzuwerten?

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Ein charakterschwaches Multiversum

Im Zuge des multiversellen Wahns verliert Drehbuchautor Michael Waldron leider den Sinn für Raum und Zeit. Die meisten Charaktere kriegen nämlich weder den nötigen Raum noch die Zeit, um überzeugende Charakterentwicklung durchzumachen. Am meisten leidet America Chavez.

Als neuer Charakter innerhalb des filmischen Marvel Universums gibt es wenig Erfahrung, auf die man sich gegenüber Chavez beziehen kann. Im Verlauf des Filmes macht sie eine sehr ungeschmückte positive Charakterentwicklung durch, aber bis auf jugendlichen Charme, der trotz nicht immer überzeugender Schauspielleistung noch durchscheint, hat sie nicht sehr viel zu bieten. Der größte emotionale Knackpunkt ihres Charakters beruht vollkommen auf einem artifiziell platzierten und lachhaft kontextlosen Moment inmitten der Handlung. Bis zum Ende hin passiert nicht viel mit ihr, was das MCU wie gehabt dadurch entschuldigt, dass es irgendeinen anderen Film, eine andere Disney+ Show gegeben wird, die ihr ihre nötige Charakterzeichnung noch gewährt.

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Erstaunlich gut funktioniert Doctor Strange selbst dafür, dass auch sein emotionales Grundproblem eher wenig Zeit im Vordergrund bekommt. Seine Zweifel daran, ob nicht doch etwas aus ihm und seiner Freundin Christine aus normalen Doktor Zeiten hätte werden können, die Frage, ob er glücklich damit ist, dass nichts aus ihnen geworden ist, ist sein größtes Problem. Benedict Cumberbatch spielt Strange effektiv und wie gewohnt in seiner Arroganz sympathisch, wobei man zu keinem Zeitpunkt von einer atemberaubenden Schauspielleistung sprechen muss. Irgendwie gelingt es Raimi und Waldron trotz wirklich extrem sporadischen Bemühungen effektiv bis zum Ende eine Entwicklung für Strange zu zeichnen, die seiner Liebe zu Christine gerecht wird. Das lenkt allerdings nicht davon ab, dass er, der eigentliche Protagonist, sich letzten Endes doch etwas weniger utilisiert anfühlt als die Scarlet Witch.

Wanda Maximoff bekommt am meisten Zeit, sich explizit mit ihrem Trubel zu beschäftigen. Der Kinderwunsch, der Versuch, ihre Kinder zurückzubekommen und der Schmerz dies nicht zu schaffen, ist der wahre emotionale Kern des neuen Dr. Strange Films. Auch wenn persönlich um einiges weniger Begeisterung für sie als für den titulären Doktor herrscht und ihre Charaktermotivation dann im typischen Raimi-Stil sehr lächerlich überzogen rüberkommt, ist genau das der Punkt, wo sie sich vom üblichen Marvel-Gegenspieler abhebt. Als wahnsinnige Todesmaschine mag sie zwar nie vollkommen gruselig, aber dafür durchaus glaubwürdig wahnsinnig geworden sein. Elizabeth Olsen spielt Wanda genau so weiter wie vorher angedeutet und tut auch dies gut, aber ebenso wenig besonders bemerkenswürdig wie ihre anderen Schauspielkollegen.

Dr. Strange in the Multiverse of Madness (2022) © Marvel Studios

Hail to the king, baby!

Wo andere Superheldenfilme den Drang haben sich entweder zu ernst zu nehmen, sich selbstreferenziell wiederholt über die Comic-Wurzeln lustig zu machen oder eine mittlere Schiene zu fahren, die noch identitätsloseren Schmarrn darstellt, zeigt Raimi wieder, dass er keine Angst davor hat seine Idee von klassischen Comics auf visueller Ebene umzusetzen. Mit Sam Raimi steht, wenig überraschend, der bloße Spaß im Vordergrund. Der Versuch mag leicht holprig sein, aber insbesondere für Fans von Raimis Frühwerken gibt es hier stilistisch, visuell, inszenatorisch viel zu lieben.

Dr. Strange in the Multiverse of Madness entfernt sich zu keinem Zeitpunkt weit, wenn überhaupt in irgendeiner Weise vom etablierten Marvel Formular. Es ist ein typischer Superheldenfilm mit seinen eher selten zündenden Witzen zu großem Fokus auf Computereffekte und dem gelegentlichen Gastauftritt eines bereits bekannten Charakters. Trotz allem ist der neue Dr. Strange untypisch gut. Kevin Feige und die Marvel-Studios haben Sam Raimi an vielen Stellen machen lassen, was er wollte. Kameratricks, erhöhte Theatralik und ein wortwörtliches Augenzwinkern in die Kamera sind nur ein paar der persönlichen Merkmale, die diesem Sequel genau das Leben eingehaucht haben, das nötig war, um dieses Skript und diese Charaktere derartig spaßig in eine weitere Runde auf der Leinwand zu schicken. Strange und Wanda sind zwar zurück, aber die ausgesprochen glorreichere Rückkehr ins Kino liegt bei Sam Raimi. Er ist zurück.

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