Wo alt auf neu trifft
Willem Dafoe bereichert die Welt des Kinos nun schon seit über 40 Jahren. Dabei arbeitete er mit Größen des Kinos wie William Friedkin, Oliver Stone, Martin Scorsese, Paul Schrader, Wes Anderson oder Sam Raimi zusammen. Da ist seine Zahl von über 100 Schauspiel Credits weniger erstaunlich als die durchschnittliche Qualität seiner Filme. Der 67-Jährige scheut nämlich weder vor Blockbustern noch Independent-Produktionen, die sein Schauspiel immer wieder auf andere Weise fordern und zum größten Teil sowohl von professionellen Kritikern als auch weltweitem Publikum gefeiert werden.
Der neuste Zusatz in seinem Repertoire an Filmen gehört auch zu diesen fordernden Schauspielerfahrungen. Vasilis Katsoupis‘ Inside feierte dieses Jahr am 20. Februar auf der 73. Berlinale im Zuge der Sektion Panorama seine Weltpremiere. Damit erblickte nicht nur der Film selbst zum ersten Mal das Licht der Welt, sondern auch der griechische, im anschließenden Q&A sehr schüchterne Regisseur, der hier nach vorheriger Dokumentarfilm-Arbeit seinen ersten Spielfilm gezeigt hat.
Die griechisch, deutsche und belgische Produktion wurde in den Kölner MMC Studios gedreht und nahm sich schon im Drehbuch-Schreib Prozess vor, Willem Dafoe die Hauptrolle spielen zu lassen. Nicht die überraschendste Wahl, wenn man sich seine Performance im Robert Eggers‘ 2019er Film The Lighthouse so ansieht. Schließlich sind beide Filme klassische Kammerspiele, die sich Dafoes Talent dazu, verrückte Männer zu spielen, vollkommen zunutze machen. Wobei Inside im Gegensatz zu The Lighthouse seinen Hauptdarsteller vollkommen alleine innerhalb dieser Kammer spielen lässt, was für Dafoe einen weiteren Meilenstein darstellen und für Katsuopis der Moment sein könnte, der seinen Namen in der internationalen Filmindustrie fest etabliert.
Ein Kammerspiel zum Überleben
Der Kunstdieb Nemo (Willem Dafoe), der mit einem atmosphärischen Anfangsmonolog sofort den Wert von Kunst im Vergleich zu den vergänglicheren Aspekten des Alltags betont, bricht in ein New Yorker Penthouse ein, um in Zusammenarbeit mit seinem nur per Walkie-Talkie anwesenden Kollegen Jack (Josia Krug) bestimmte Kunstwerke zu stehlen. Unter Zeitdruck und beim vergeblichen Versuch, eins der zu stehlenden Kunstwerke in der Geräumigkeit des Penthouse aufzutreiben, schafft es Nemo nicht rechtzeitig wieder aus dem Gebäude zu entkommen, womit sich das Sicherheitssystem in einen Lockdown begibt. Jack braucht nur wenige Sekunden, um die Aussichtslosigkeit der Situation einzusehen, bricht Kontakt ab und lässt Nemo damit alleine und verlassen in dem übergroßen Apartment zurück. Nemos Ziel: Entkommen und Überleben.
Recht schnell gibt Ben Hopkins mit seinem Drehbuch, das auf einer Idee Katsuopis‘ basiert, den Ton an und stellt Nemo vor verschiedene Herausforderungen, wie dem Fehlen von fließendem Wasser, einer aufgrund des beschädigten Sicherheitssystems immer heißer werdenden Umgebung und dem menschenüblichen Hunger, der auf einen leeren Kühlschrank stoßt. Dabei vermischt Hopkins die frühe sowie späte Verzweiflung Nemos mit einem gewissen Grad an Humor, der von Dafoe und seiner bloßen Körperlichkeit in der Performance höchst surreal aufgegriffen wird. Mit seinen etwa 65 Jahren zum Zeitpunkt der Principal Photography im Sommer 2021 ist es doch erstaunenswert Dafoe halb nackt und schwitzend klettern, laufen oder sich auf dem Boden bückend mit Wasser vollspritzen zu sehen. Dafoe opfert damit das stereotypische Bild eines Schauspielers mit klassischem Hollywood-Prestige, aber kann sich so vollkommen einer Rolle widmen, die im Verlauf des Films eine Badewanne dermaßen mit Fäkalien verziert, dass Fans von Dafoes Filmen letzten Endes verstehen, warum dieser Mann sich für eine solche Rolle entschieden hat.
Nemo verbringt aber nicht seine ganze Zeit mit irrsinnigen Kochshows für imaginäre Zuschauer, sondern erhascht auch einen Blick auf eine Mitarbeiterin des Apartmentkomplexes, Jasmine (Eliza Stuyck). Als eine Art B-Plot fungierend, taucht Jasmine immer wieder in Sicherheitsaufnahmen des Gebäudes auf, die Nemo ab und zu auf dem kaputten Fernseher des Penthouse erblicken kann. Dabei übernimmt sie eine parasoziale Beziehung gegenüber Nemo und bekommt auf subversive Weise die Rolle des objects of desire zugewiesen, da der Film anmuten lässt, dass sie mit ein wenig Glück auf Nemos Seite für eine Rettung aus dem Penthouse sorgen könnte, aber nebenbei auch eine sexuelle Anziehung anschneidet.
Kunst und Kritik?
Durch die stete Konfrontation mit den immer gleichen Kunstwerken kommt auch Kunstliebhaber Nemo irgendwann an seine Grenzen. Durch seine Isolation immer verrückter werdend, fängt er an, Gemälde zu zerstören und umzuwerfen, beginnt zu halluzinieren, dass der Besitzer des Penthouse (Gene Bervoets) das ganze Theater vielleicht geplant haben könnte. Inside bewegt sich ab einem gewissen Punkt so weit in den Surrealismus, dass ganze Traumsequenzen und auch eher normal wirkende Szenen hinterfragt werden können. Hierbei rückt allerdings weniger der mentale Zustand als der Versuch Nemos mit der Situation und seiner schwindenden psychischen Stabilität klarzukommen, in den Mittelpunkt.
Umgeben von Kunst aus aller Welt versuchen Hopkins und Katsuopis durch die Augen Nemos sowohl die Welt der Kunst zu kritisieren als auch ein Licht auf die Schönheit dieser grundlegenden Kreativität zu lenken. Ein riesiges unbelebtes Penthouse, ausgestattet mit unendlich wertvollen Gemälden, dass über den gesamten Handlungsverlauf auch als Abstellkammer dienen könnte. Wofür brauchen reiche Männer wie der namenlose Besitzer des Penthouse überhaupt einen solch idyllischen Raum, wenn sie in diesem doch ohnehin nicht wirklich leben. Inside versucht hier Kritik an dieser Oberschicht zu äußern, einer Oberschicht die Kunst in vermeintlicher Liebe sammelt und der Allgemeinheit den Zugang an diese Kunstwerke verwehrt. Einer Oberschicht, die ihr vermeintliches Zuhause so zurück lässt, als wäre es nur eines ihrer vielen Museen.
Dieser Aspekt des Drehbuchs schwingt letzten Endes mehr im Hintergrund mit, wo der Fokus doch mehr auf der Kunstliebe Nemos liegt. Vom bereits erwähnten anfänglichen Monolog an wird Nemo als Kunstliebhaber gezeichnet, der in seiner Situation vom Kunstschätzenden zu aktivem Künstler heranwächst. Die Zerstörung, die Nemo als Konsequenz seines Versuchs zu überleben im Penthouse hinterlässt, bildet im Verlauf des Films sein eigenes Kunstwerk mit seiner eigenen Bedeutung und klaren Schönheit, die der oberflächlichen Kunstliebe des Besitzers indirekt zeigt, was Kunst zu bedeuten hat.
Katsuopis schafft es, diesen Schaffungsprozess Nemos in einer beeindruckenden Schönheit zu inszenieren, aber vergisst dabei genauso wie Hopkins‘ Drehbuch, dass der eigentliche Kern der Handlung trotz der facettenreichen Aspekte der Kunstkritik wirklich etwas zu sagen haben sollte. Vergeblich wartet man auf eine wirklich stechende Aussage, eine wirklich frech werdende, beißende Kritik an den Reichen oder eine tatsächliche Meditation über die Bedeutung von Kunst. Beide dieser erwähnten Thematiken bleiben bis zum Ende hin größtenteils mehr Futter für Hopkins Drehbuch, um zwar erfolgreich von abwechslungslosen Längen in der Erzählung abzulenken, aber erfolglos, beide dieser Aspekte weit genug zu entwickeln, um einen Film mit echtem thematischen Mehrwert zu konstruieren.
Wie man ein Penthouse inszeniert
Stattdessen ist der wahre Star der Show neben Dafoes Schauspiel das Produktionsdesign von Thorsten Sabel. Nicht umsonst wird dieses im Q&A nach dem Screening als sekundärer Protagonist genannt. Das Penthouse ist hinsichtlich seines Designs und der bloßen Kunstausstattung wahrlich schön anzusehen. Aber die Art, auf die sich das Apartment im Verlauf der Handlung verändert, die Räumlichkeit, die sich immer weiter in bestimmte Extreme begibt, ist mehr als nur beeindruckend. Die zerstörten Gegenstände und der generelle kühle Brutalismus abseits der warmen Gemälde zeichnen eine Kammer, die zwischen dem Luxus eines Penthouse und dem Horror eines Gefängnisses funktioniert. Der bloße Blick auf die immer überzeugend dargestellt Skyline New Yorks ist dabei eine immer vorhandene Erinnerung an die Außenwelt und der Einsamkeit der sozialen Isolation.
Um diese atemberaubende Szenerie einzufangen, arbeitete Steve Annis als D.O.P. der Produktion und schafft es, genügend hübsche Bilder zu schaffen, die allerdings nie so atemberaubend wirken, wie insbesondere die Traumsequenzen es eigentlich fordern würden. Die Kameraarbeit lenkt die Aufmerksamkeit nie komplett auf sich, ist damit zurückhaltend und lässt einen dafür umso mehr das Schauspiel und die Gestaltung des Penthouse genießen. Ähnlich zurückhaltend ist auch der Soundtrack von Frederik van de Moortel, der ebenso wenig im Mittelpunkt stehen will und so mehr die Atmosphäre unterstützend im Hintergrund mitschwingt, aber seinen Job auf die Weise zumindest erfüllt.
Kein Durchbruch
Katsuopis Regie ist über weite Strecken so anonym, ohne herausstechende Persönlichkeit, dass selbst die vermeintlich eindrucksvolleren Momente nur Erinnerungen an andere Filme wecken, die ähnliche Sequenzen noch interessanter umsetzen konnten. Hopkins Drehbuch besitzt zwar ein nennenswert funktionales Erzähltempo und bietet genug Abwechslung innerhalb seines Kammerspiels, aber schafft es ebenfalls nicht, die angeschnittenen Thematiken auf eine solche Weise herauszuarbeiten, dass sie groß beim Publikum hängen bleiben.
Zumindest war das Casting Dafoes eine vielleicht nicht zu inspirierte, aber eine dafür überaus gut getroffene Wahl, die letzten Endes zusammen mit dem Produktionsdesign den Klebstoff darstellt, der das Gesamtwerk zusammenhält. Katsuopis inszeniert zwar einen kohärenten Film, aber schafft selbst in Zusammenarbeit mit Hopkins am Drehbuch nicht ein wirklich thematisch wirkungsvolles und psychologisch eindrucksvolles Kammerspiel zu entwickeln, das letzten Endes mehr wie seichte Unterhaltung wirkt, was im Angesicht der Kammerspielthematik sowohl überraschend als auch enttäuschend sein kann.
Damit mag Inside letzten Endes wohl nicht der Durchbruch sein, der Katsuopis zu einem bekannten Namen in der Industrie macht, aber nichtsdestotrotz schafft der Film es für seine Laufzeit gute, wenn auch oberflächliche Unterhaltung zu bieten, der über kurz oder lang seinen angebrachten Platz in der Filmographie Dafoes finden wird und für Katsuopis ein guter erster Versuch sein wird, der als Sprungbrett für ein kommendes Meisterwerk dient.