Überall Hype
Vor einem Monat prämierte “Everything Everywhere All at Once” auf dem South by Southwest Festival in Austin, Texas und war seitdem aus dem diesjährigen Filmdiskurs nicht mehr wegzudenken. Als filmbegeisterter Mensch mit regelmäßigem Kontakt zu den sozialen Medien, ob Twitter, Instagram oder Reddit gab es kein Entkommen. Der Film war überall gleichzeitig. Lobpreisungen, Rezensionen, Memes und generelle Diskussion über den neuen Film der „Daniels“, dem Regisseur Duo bekannt für unter anderem „Swiss Army Man“ ist nun seit einigen Wochen nicht mehr aus dem Internet wegzudenken.
Hierzulande lässt die Veröffentlichung aber etwas länger auf sich warten als in den USA. Während andere europäische Länder immer noch mit Details über die Veröffentlichung in Kinos zu kämpfen haben, wissen wir immerhin, dass der Film uns ab dem 28. April in unseren nächsten Programmkinos erwarten wird.
Mit Glück bin ich mehr unbeabsichtigt als mit voller Vorfreude in eine Vorabvorstellung gerutscht, circa zwei Wochen vor dem normalen Kinostart. Nach dem enormen Hype im Internet war es schwer, den Film ohne große Erwartungen anzugehen, viele Vergleiche zu Klassikern und anderen Meisterwerken haben sich schon im Voraus in meinem Gehirn eingenistet. Und dennoch habe ich Everything Everywhere All at Once geliebt. Ähnlich herrlich beknackt wie der Daniels‘ Swiss Army Man, aber mit einem noch ausgeprägteren Sinn für die Visualität des Kinos und einer weitaus mehr nahbaren Handlung, dass es sich hier um einen irrsinnig weiten Sprung in Richtung eines massenmarktfähigen Meisterwerks handelt.
Gleichzeitige Universen – Das Multiversum
Ich selbst habe kaum was von dem Film und seiner Rahmenhandlung gewusst. Deshalb werde ich meine Beschreibung der Handlung auch möglichst kürz und grob halten. Everything Everywhere All At Once ist ein so verrückter Film, dass man nur davon profitiert, ihn mit möglichst großer Unwissenheit über seine konkreten Ausprägungen in Angriff zu nehmen.
Evelyn Wang (Michelle Yeoh), eine nach Amerika gezogene Chinesin betreibt zusammen mit ihrem Ehemann Waymond (Ke Huy Quan) einen Waschsalon. Gleichzeitig führt sie eine distanzierte Beziehung zu ihrer Tochter (Stephanie Hsu), dessen Sexualität sie vor ihrem im Rollstuhl sitzenden Vater (James Hong) aus Scham zu verstecken versucht. Gefangen in einer ziellosen Ehe, überfordert mit ihrer ergebnislosen Arbeit, einer schlechten Beziehung zur Tochter und dem unrealisierten Wunsch, mehr aus ihrem Leben gemacht zu haben, findet Evelyn einen Weg aus Traum Realität zu machen. Hier kommt das Multiversum ins Spiel.
Aus einem zwar nicht einfachen, aber im Vergleich doch sehr routinehaften Tag im Steuerbüro wird ein Kampf um das Schicksal aller Universen. Die Evelyns verschiedener Welten sollen getötet und die einzelnen Universen ausgelöscht werden. Der einzige Weg vorwärts ist ein Sprung ins kalte Wasser. Die unendlichen Weiten des Multiversums.
Evelyn akzeptiert, wie ihre Welt auf den Kopf gestellt wird und gibt sich den anderen Universen hin. Es folgt ein Abenteuer in ihrer eigenen Realität und gleichzeitig ein weit ausschweifender Blick in Realitäten, die hätten sein können, aber es nicht sind. Herrlich schrullige Paralleluniversen werden präsentiert und mit jedem Blick in eine weitere alternative Welt wird es spannender, was die Daniels aus ihrer Vorstellungskraft hier als Nächstes auf die Leinwand projizieren.
Everything Everywhere All at Once ist ein Abenteuer über Evelyn selbst darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein, was es heißt, Chancen zu verpassen und Chancen genutzt zu haben. Ein Film über das Leben. Liebe für andere, Liebe für sich selbst. Verpackt in einem Actiongeladenen-Genre-Mix, der neben Krawall und so einigen Lachern auch mindestens genauso viel zum Nachdenken gibt.
Bei diesem Endergebnis ist es kein Wunder, dass die Regisseure einen Deal zum Regieführen bei Marvels Loki TV-Show ausgeschlagen und stattdessen ihr vollkommen eigenes Multiversum-Meisterwerk erschaffen haben. Ein Film, der sich nicht damit zufriedengibt, dieses Konzept bloß mit Action und losem Fanservice auszureizen, sondern die Menschlichkeit, das menschliche Empathievermögen, den Eskapismus durch Medien und die Liebe zum Kino gleichzeitig verarbeitet.
Inspirierte Inszenierung
So fantastisch sich die Handlung über die Laufzeit auch entfaltet, die größte Herausforderung beim Sitzen vor der Kinoleinwand wird nicht das Verstehen der verrückten Geschichte, sondern sich dem Geschehen überhaupt erst hinzugeben. Dan Kwan und Daniel Scheinert geben sich große Mühe, die interne Logik des Films zu etablieren, aber langweilen dabei schnell mit lang gezogener Exposition, wo es vielleicht doch effektiver gewesen wäre, den Zuschauer einfach ins Geschehen zu werfen.
Nach einem extrem überladenen, aber noch ziemlich realitätsnahem Intro, in dem so viel gleichzeitig passiert, dass man ähnlich wie in „Uncut Gems“ fast schon Panik bekommt, dauert es nicht lange, bis das Multiversum sich entfaltet. Während das anfängliche Zögern, dieses bekloppte Konzept wirklich anzunehmen, für einiges an ernsthaft lustiger Komik sorgt, hätte der Film mit seinen 139 Minuten Laufzeit dort am Anfang definitiv etwas an Fett trimmen können, um schneller zum Kern der Sache zu kommen und eine rundere Erfahrung zu bieten.
Stark aufgepeppt wird der erste Akt allerdings noch mit der ausgefallenen Inszenierung, die so grenzenlos kreativ und oft urkomisch ist, dass man über die öden Erklärungen bezüglich der Handlung zumindest ein wenig hinwegsehen kann. Hirnrissig fantastische Actionszenen wechseln sich mit Einblicken in andere Universen ab, während die Handlung an Fahrt aufnimmt und zum zweiten Akt hin endlich die Genialität erreicht, die von Anfang an schon zu erkennen war.
Bis zum Punkt, an dem der Film klar macht, worum es überhaupt konkret geht, begeistert die Visualität des Films, wie man es selten in Nicht-animierten-Kinofilmen zu sehen kriegt. Mir kamen ungelogen schnell die ersten Tränen, da die Kreativität in der Umsetzung der verschiedenen Universumssprünge, der Montagen und der Action derartig ausgefallen war, dass ich nichts als Respekt vor dem hatte, was die Regisseure und der Kinematograph (Larkin Seiple) sich dort ausgedacht haben.
Hier wurden die Regeln von auf der Realität basierender Bildhaftigkeit im Kino komplett zur Seite geworfen. Stattdessen entfaltet sich ein Feuerwerk an atemberaubenden Übergängen, urkomischen und fantastischen Tricks mit dem Seitenverhältnis des Bildes, dem Kameraverschluss und immer wieder wechselnden Farbpaletten. Andere Filme werden nicht nur direkt referenziert, sondern so visuell emuliert, dass Fans mit genug Kenntnis im Bereich Filmgeschichte eine fantastische Erfahrung haben werden. Ich habe seit Edgar Wrights „Scott Pilgrim vs. The World“ keinen Film gesehen, der mich mit seiner visuellen Umsetzung so sehr mitreißen konnte wie Everything Everywhere All at Once.
Filmemacher wie Wright begeistern mich mit jedem ihrer Filme immer wieder damit, dass sie so viel aus ihrer Kamera rausholen. Dass ihrem Stil so viel Priorität gegeben wird. Dass ein Film, der schon inhärent größtenteils von seiner Visualität profitiert, diesen visuellen Aspekt so sehr ausnutzt und damit so viel Respekt gegenüber dem Medium zollt, dass mir die Tränen kommen.
Everything Everywhere All at Once will in seiner Inszenierung vollkommen frei sein und die Realität hinter sich lassen. Die Crew möchte Dinge zeigen, die so in echt niemals möglichen wären, als bloße Seite in einem Buch niemals dieselbe Wirkung entfalten könnten und eine einzigartige Kinoerfahrung bieten, die allein aufgrund seiner Umsetzung schon zu einem Meisterwerk des modernen Kinos wird.
Der Film ist trotz seiner anfänglichen Holprigkeit also alles andere als langweilig. Das zähe Set-Up wird durch das tatsächliche Erlebnis so überspielt, dass man bis zum Ende hin schon vollkommen vergessen hat, dass der Filme ein Weilchen gebraucht hat, um loszulegen.
Die unendlichen Persönlichkeiten
Das Multiversum an sich wird in seinen Details von allen Beteiligten mit genauso viel Feingefühl behandelt wie die visuelle Präsentation. In jeder alternativen Version von Evelyn, ihrem Mann oder ihrer Tochter steckt so viel Arbeit, wie ich bis heute nie in meine akademische Laufbahn stecken wollte. Die Sets, die Kostüme, die Präsentation und leichten charakterlichen Unterschiede sind die Kulmination von stundenlanger, harter Arbeit.
Michelle Yeoh ist fantastisch, egal welche Version ihrer selbst sie spielt, Ke Huy Quan erobert all unsere Herzen genauso als wäre er erst gestern Indys Sidekick in „Der Tempel des Todes“ gewesen, Stephanie Hsus verzweifelte jugendliche Rebellion ist überall und jederzeit genauso lustig wie traurig nachvollziehbar, und James Hongs Großvater ist ein stetig lustiger als auch konservativer Gegenpol zum Rest der Familie.
Zwar auf dem Papier bloß ein Nebencharakter, aber letzten Endes doch auch sehr wichtig ist Jamie Lee Curtis‘ Angestellte im Steuerbüro. Ein Charakter, der sich so wie die Familienmitglieder durch die meisten Universen durchzieht, und zwar oft als Antagonist erscheint, aber auf ihre eigene merkwürdige Weise neben Evelyns Ehemann den menschlichsten Charakter im gesamten Multiversum darstellt.
Regie und Schauspieler gehören dafür applaudiert, dass sie zwischen so viele Genres und tonal unterschiedlichen Stimmungen konstant überzeugende Leistungen abliefern und im Bereich der Komik auch immer wieder eins drauflegen können. Im Schauspiel befindet sich kein einziges schwaches Glied, und ohne die sympathischen und gut gespielten Charaktere würde man in der sich über Universen streckenden Handlung verloren gehen.
Evelyn ist ein fantastischer Charakter. Mit all ihren Qualitäten und fehlenden Ausprägungen. Jede Version von ihr ergänzt das Gesamtbild über ihr wahres Wesen und ihr Platz als im Alltag verlorenes Haushaltsoberhaupt macht sie zur perfekten Protagonistin für einen konzeptuell so wirren und komplizierten Film wie diesen. Aber desto mehr man wirklich konkret auf die Charaktere eingeht, desto mehr nähert man sich dem Bereich der Spoiler.
Alles ergibt Sinn
Trotz meines Schwurs möglichst Spoiler-frei vom Film zu erzählen, ist es wichtig, noch ein paar Worte zur Thematik der Handlung zu verlieren. Schließlich hat mich der Film nicht nur visuell beeindrucken, dann zum Weinen bringen können, sondern hat auch im Verlauf der Geschichte immer wieder an meinen Tränendrüsen gezapft.
Die Einblicke in die verschiedenen Universen sind nicht nur komische Gimmicks, die Evelyn ermöglichen, Antrieb in ihrer eigenen Wirklichkeit zu finden, sie sind ebenso existenzielle Einblicke in Welten, wo alles anders, alles besser scheint. Evelyn würde so ziemlich jedes Leben ihrem eigenen als Betreiberin eines Waschsalons bevorzugen. Diese Einblicke in ihre anderen Leben zeigen ihr so viel mehr, als dass, was sie aus ihrem Dasein kennt. Wie ein Blick in den Spiegel an einem schlechten Tag, der einen realisieren lässt, wie sinnlos die eigene Existenz doch sein kann.
Mit diesem Gedanken spielt Everything Everywhere All at Once. Er bildet den Kern, das Herz seiner Charaktere und der Geschichte. Charaktere, die sich selbst nicht mehr lieben, andere nicht mehr lieben und von anderen nicht geliebt werden. Charaktere, die sich in Selbstmitleid verlieren und aus den Augen verloren haben, was ihnen wichtig war und wichtig sein sollte.
Gewissermaßen kommentieren die Daniels den für narrative Medien typischen Eskapismus. Dass das Gucken von Filmen, Lesen von Büchern oder Spielen von Videospielen oftmals den vermeintlich einzigen Weg für uns darstellt, bestimmte Dinge zu erleben. Ob es um so rudimentäre Dinge wie Liebe, einen aufregenden Job oder Kriege im Weltraum geht. Als Mensch stellt man sich daher oft vor, wie es wäre, in der Position dieser fiktiven Charaktere zu sein und kann dadurch im schlimmsten Fall beginnen, das eigene Leben weniger zu schätzen.
Die große Lehre hier ist Empathie. Sobald man beginnt, an der Sinnlosigkeit seiner Existenz zu zweifeln, verliert man die Empathie für sich selbst und das Mitgefühl für andere. Aber die Welt ist zu groß, es stehen einem zu viele Möglichkeiten offen, es gibt keinen Grund, den Sinn seines Seins zu verlieren, so schwer, dass in der modernen Welt auch sein mag.
Mitgefühl für andere zu haben macht nicht nur das Leben anderer, sondern auch das Eigene, um einiges fröhlicher. Selbst Mitgefühl für einen Stein zu haben als auch für fremde Menschen, zeigt einem selbst und allen um einen herum, dass es Dinge gibt, die wirklich wichtig sind. Dinge, die ihren Sinn haben, Sinn ergeben und Sinn an uns weitergeben.
Eine Message von extremer Bedeutung für junge Generationen, eine Message, die sich jeder, der auch nur ansatzweise daran interessiert ist, in seiner ganzen glorreichen Kreativität hier vermitteln lassen sollte.
Ein Film für jeden
Everything Everywhere All at Once kombiniert atemberaubend kreative Inszenierung, irrsinnigen Humor und eine für Action Filme ungewohnt einfühlsame Geschichte in ein modernes Meisterwerk. Ein Satz, den man so oder so ähnlich schon seit Wochen hört und noch eine ganze Weile länger im Internet rumschwirren wird. Ein Film, der mich in seiner Präsentation an andere Kult-Meisterwerke wie Scott Pilgrim vs. The World erinnert und mich trotz seines actiongeladenen Pacings ähnlich berühren konnte wie Sam Raimis Spider-Man 2.
Ich kann mir in keiner Welt, keinem Universum vorstellen, dass es irgendeinen an Filmen interessierten Menschen gibt, der keine Sache findet, die es hier zu lieben gibt. Ein Film, von dem ich nicht einmal wusste, dass ich ihn an diesem Abend schauen würde, der mir eine Erfahrung gab, die ich so niemals vergessen werde. Ein Film für jeden, von überall und das gleichzeitig.