Zwölf Männer, ein Leben
Zwölf weiße Männer sammeln sich in einem abgeschotteten Raum eines Gerichtsgebäudes. Männer vom verschiedenen Alter, verschiedenen Berufen und verschiedenem Charakter. Verbunden sind sie miteinander durch nichts Bestimmtes. Die eine Tatsache, die diese Männer zusammenbringt, ist das Geschworenengericht. Die Pflicht eines jeden Bürgers, nach einer zufälligen Auswahl vor Gericht zu erscheinen und als Teil einer Gruppe von Geschworenen das Urteil über eine Gerichtsverhandlung zu fällen.
12 Angry Men oder hierzulande Die zwölf Geschworenen ist ein von Sidney Lumet inszenierter Filmklassiker aus dem Jahre 1957. Bis auf am Anfang und Ende befinden sich die zwölf wütenden Männer zusammen in einem stickigen Nebenzimmer, das als Setting für das Kammerspiel dient. Diskutiert wird über den Tod und das Leben eines schuldigen oder unschuldigen 18-Jährigen, der seinen eigenen Vater ermordet haben soll.
1:11 – Unpersönlich
Ohne große Umschweife wirft die Handlung seine Figuren in den Raum, die über die nächsten 90 Minuten der einzige Ort sein wird, den sie zu sehen bekommen. Keine große Exposition über die bisherige Gerichtsverhandlung, keine designierte Vorstellung des Angeklagten oder der Geschworenen. Die entscheidungstragenden Männer verlassen ihr Podium und blicken ein letztes Mal auf den Jungen, über dessen Leben nun entschieden wird.
Es entfaltet sich ein Drama, welches zwölf verschiedenen Persönlichkeiten offenlegt, diskutiert, kritisiert und an ihre Grenzen bringt. Über den Verlauf der Handlung wird keiner der Geschworenen beim Namen genannt, kein Name offenbart. Die Namen sind Nebensache.
Die Tage der Gerichtsverhandlung sind der einzige Grund ihrer Zusammenkunft. Was für eine Rolle spielen hier schon Namen, Details über das Privatleben? Wichtig sind nur die Charaktereigenschaften, die moralischen Überzeugungen, die zur Entscheidung über das Schicksal des Angeklagten führen.
Die Charaktere erfüllen sowohl von der Perspektive des Skripts als auch innerhalb der Handlung vielmehr den Zweck als Repräsentanten bestimmter Klassen, generellen Arten von Menschen. Sowie die zwölf Geschworenen untereinander sind auch die Figuren für den Zuschauer mit wenigen Ausnahmen inhärent blass. Eine kurze Begegnung mit verschiedenen Männern, die nicht das eigene Leben definiert, aber dafür das Leben eines 18-jährigen Jungen.
Jedes Detail, das über den Hintergrund eines Geschworenen offenbart wird, dient immer einer bestimmten Funktion. Ob diese Information direkten Einfluss auf das letztendliche Urteil hat oder über Umwege versucht zu definieren, warum eine Figur zum gegebenen Zeitpunkt so handelt, wie sie es nun mal tut. Wir lernen nichts über die Geschworenen, was im Rahmen der Handlung keine Rolle spielt. Letztendlich trägt jedes Detail dazu bei, dass jeder Geschworene seine eigene Rolle im Kontext des dicht erzählten Kammerspiels besser erfüllen kann.
Ein großer Fokus von 12 Angry Men ist also die Tatsache, dass keiner der anwesenden Männer auf individueller Ebene relevant für die Verhandlung ist. Ob Schuld oder Unschuld, die Entscheidung kann nur kollektiv getroffen werden. Zwar trägt jeder Geschworene individuell dazu bei, diese Entscheidung zu beeinflussen, aber im großen Bild stehen sie nicht für sich selbst als Individuen, sondern als Repräsentanten einer moralischen Entscheidung und des Justizsystems.
6:6 – Entscheidungen treffen
Während Juror #8 seinen moralischen Appell an die restlichen Geschworenen leistet, wird es im Zimmer immer heißer. Nicht nur die Spannung des Gemüts der anderen Geschworenen nimmt zu, sondern auch die nicht funktionierende Klimaanlage im Raum trägt zur immer mehr eskalierenden Atmosphäre bei.
Die freundschaftlich spielerischen Kennenlernversuche kommen und gehen. Angriffe auf andere Geschworene werden verbal-persönlicher, eventuell sogar physisch. Es bilden sich kleine Gruppen an miteinander Sympathisierenden und der Geduldsfaden reißt. Während immer mehr Geschworene Zweifel an der Validität der Beweise gegen den Angeklagten hegen, kommt es zu wütenderen Männern und aggressiveren Auseinandersetzungen.
Dem einen Mann ist das Schicksal des Jungen, seine Rolle als Geschworener egal, er möchte nur keine weitere Zeit mit dieser Verhandlung verschwenden. Der andere ist von fester Überzeugung, dass es wichtig sei, im Angesicht der amerikanischen Demokratie seine Rolle so ausführlich zu erfüllen wie nur möglich. Ein weiterer projiziert die unfunktionale Beziehung zu seinem eigenen Sohn auf den Angeklagten, und ein wiederum anderer möchte nicht mehr als die Ungereimtheiten des Gerichtsprozesses aufgrund intuitiver Zweifel noch einmal klären.
Um zusammen eine Entscheidung treffen zu können, muss diskutiert werden. Die zwölf Geschworenen als Film und als Figuren offenbart und offenbaren die persönlichen Vorurteile, die eine Stellung in der Gesellschaft tief in einem verankern. Kann in einer Diskussion über Leben und Tod wirklich die Subjektivität des eigenen Lebens über das Ableben eines anderen bestimmen?
Selbst der letzte Rassist, der letzte konservative Grantler, muss davon überzeugt werden, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Was ist Fakt? Fakt ist, man weiß es nicht. Von intuitivem Hinterfragen der „Fakten“ zur gemeinsamen Arbeit, um eine wahrscheinlichere Wahrheit zu finden. Immer wieder wird in Frage gestellt, woher die Geschworenen wissen, dass der Angeklagte es nicht getan hätte. Es geht nicht um das Wissen, es geht um die berechtigten Zweifel an einer einseitigen Verhandlung und unklaren Zeugenaussagen.
Wo beginnt Fakt, wo endet Emotion. Jeder der zwölf Männer tritt mit einer anderen Perspektive aufs Feld und so wie sich die Perspektive auf die Verhandlung verschiebt, offenbaren sich auch für die Männer neue Perspektiven. Die Stimmung im Raum ändert sich, plötzlich ist es nicht mehr einer gegen alle, sondern zwei gegen zehn, irgendwann sechs gegen sechs, irgendwann zwölf gegen niemanden.
12:0 – Geschichte schreiben
Lumet erzählt innerhalb einer Laufzeit von 97 Minuten eine brisant pointiertes, durchdacht inszeniertes Gerichtsdrama, das die Voreingenommenheit einer Klassengesellschaft beleuchtet, durchleuchtet. Die Handlung wird durch die scharf geschriebenen Dialoge, die in den Dialogen steckenden Ideologien getragen und definiert. Eine Gesellschaft wird anhand einer zufälligen Auswahl dieser zwölf Männer observiert und gewissermaßen auch kommentiert.
Neben dem vielmals gepriesenen Skript von Reginald Rose visualisiert Lumet seine Figuren präzise und kohärent. Lange, oft weite Einstellungen, die öfter als nicht eine Vielzahl, wenn nicht alle Geschworenen innerhalb des Bildrahmens zeigen. Jede Figur, ob gerade am Reden oder nicht, hat etwas zu tun, bewegt sich, bewegt sich vielleicht auch nicht. Kein schwaches Glied im Schauspiel, jeder Charakter genauso überzeugend gespielt wie geschrieben. Komplett von vorne bis hinten durchkomponiert, fühlt sich dieses eine Zimmer mit seinen zwölf Geschworenen durchgehend so an wie ein einziger tatsächlich belebter Raum.
Zwischen jeder Einstellung bleiben die Positionen der Figuren intakt, das Framing und die Positionierung kommentieren die Lage genauso oft wie sie präsentieren. Auch Boris Kaufman als Kinematograf trägt massiv zur Wirkung des Gesamtwerkes bei.
1957 erschien einer der wegweisendsten Filme der Filmgeschichte. Damals schon renommiert und vielmalig für Preise nominiert, oder selbst heute von Communitys wie der vom Online-Portal Letterboxd zum acht besten Film aller Zeiten gewählt. Der klare Fakt, unabhängig irgendeiner Emotion oder subjektiven Meinung: Über 12 Angry Men wird auch heute noch geredet. 12 wütende Männer und ein zu warmes Zimmer in einem Gerichtsgebäude, mehr hat es nicht gebraucht, um Filmgeschichte zu schreiben.